Tauwetter nach der Corona-Eiszeit

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Die Gastronomie in der stark vom Tourismus abhängigen Stadt Zürich hatte hart zu beissen während dem Lockdown. Doch nun macht sich Aufbruchstimmung breit. Das Zeitalter von Trennwänden scheint angebrochen zu sein. Ein Augenschein.

Egal, welchen Weg sie wählten: Die Gastronomen, welche die Chance nutzten, ihr Lokal am 11. Mai wieder zu eröffnen, fanden Lösungen. Manchmal waren diese besonders kreativ, wie die Gräbli Bar im Zürcher Niederdorf zeigt. Bardame Tatiana Lakomcova ist gerade daran, einem weiteren Kunden die Öffnungszeiten zu erklären: Ab Mitternacht sei Schluss, erst um 11 Uhr öffnet die Kultstätte des Zürcher Nachtlebens seine Tür wieder. Hier, wo sich, ähnlich etwa der Olé Olé Bar im Langstrassenquartier, welche derzeit als Blumenladen operiert, feiernde Nachtschwärmer und Frühaufsteher um 5 Uhr morgens die Klinke geben. Tatiana Lakomcova trägt ein durchsichtiges Schutzschild, um das ganze Gesicht zu schützen. «Wissen Sie, das ist sehr praktisch. So schütze ich Sie als auch mich selber – und ich kann gut atmen.» Den Gesichtsschutz habe sie privat gekauft. Von «Forstarbeiterin im Wienerwald» bis «Star Wars Stormtrooper» muss sie sich viel anhören. Doch das ist ein kleiner Preis angesichts der Vorteile punkto Bewegungsfreiheit und Hygiene. Fürs Foto richtet sie sich die Haare hinter dem Visier. «Trotz Corona sind die Leute eben eitel», bemerkt jemand.

Zwei Stammkunden sitzen am Tresen, der durch eine in einem Holzrahmen eingefasste Plexiglasscheibe vom Barpersonal abgetrennt ist, und haben vor allem ein Thema: Corona. Zwei der drei Gäste an diesem Dienstagmittag erzählen einander von ihrer üblichen abendlichen Route durch die Beizen und Bars im Niederdorf, oder von den letzten Fussballspielen, die sie besuchten – vor dem Lockdown notabene. «Jetzt geht das Leben wieder weiter», meint der Schreibende, um das kurze Schweigen zu brechen. «Sieht nicht so aus», meint der eine zynisch und schaut sich um. Der einzige weitere Gast ist Kurt (56), er sitzt etwas abseits an einem Tisch in einer Ecke vor einem Bier und einem Zwetschgen-Lutz. «Trumps Desinfektionsmittel», wird er später sagen. Als das Grüppchen eine kleine, aber eben fürs engere Zusammenrücken vorgeschriebene gläserne Trennwand begutachtet, meint der erste Gast wieder: «Total übertrieben.»

Die Stammgäste, die vor allem nachmittags und abends vorbei schauten, hätten schon am ersten Tag das Lokal besucht, erzählt Bardame Tatiana. Doch es ist letztlich nur ein Bruchteil des üblichen Umsatzes. Die Bar hatte sich gut vorbereitet und wollte bereits am Montag, 0.01 Uhr nach dem Lockdown wieder öffnen – ab dann wieder 24 Stunden lang. Doch am 7. Mai kam dann die Hiobsbotschaft vom Bundesrat: Um Mitternacht sei Schluss. Das bestätigt Nicole Holenstein, Inhaberin von Holenstein Gastro mit 17 Betrieben, davon fünf im Niederdorf. «Der Umsatz hängt zwar sehr von den Plätzen ab, an denen man Gäste bedienen kann.» Doch die einschneidendste Massnahme sei die Polizeistunde um Mitternacht. Gerade die Gräbli Bar erwirtschafte weitaus den meisten Umsatz nach Mitternacht. «Wenn wir das gewusst hätten, hätten wir das Geld in die teuren Plexiglasvorrichtungen in der Gräbli Bar wohl nicht investiert. Das lohnte sich schlicht nicht», sagt Holenstein. Kommt hinzu, dass bei der Gräbli Bar eine Rettungsgasse freigehalten werden müsse und sie somit nicht von der durch die Stadt bewilligten Ausdehnung des Sitzplatzbereichs profitieren kann. Doch sie blickt nach vorn. «Ich denke, die Wochenenden werden für uns entscheidend sein. Und ich weiss nicht, ob die Stadt die Polizeistunde durchzieht. Denn Punkt Mitternacht werden alle auf der Strasse stehen, während sie sonst gestaffelt nach Hause gehen würden. Im Niederdorf und an der Langstrasse wird die Hölle los sein.»

Auch für Risikopatient Pflicht

«Das Gräbli ist eine Institution», sagt Stammgast Kurt, der sich selber wegen einer Vorerkrankung auf der Lunge als Hochrisikopatient bezeichnet. «Wenn man den Betrieb schätzt und den Aufwand sieht, den sie hier für die Wiedereröffnung betreiben, dann geht man erst recht hin. Für mich war es Pflicht, heute hier zu Mittag zu essen.» Nach der siebenwöchigen Blockade, die er zu Hause verbrachte, hält er sich nun strikt an den Abstand. Aber er bricht klar eine Lanze für die Gastronomen – und sieht die zeitweise Unterschreitung des Zwei-Meter-Abstands als tragbar. «Weshalb soll man keine Beiz besuchen, wenn der Staat nicht einmal eine Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr durchsetzt?» Und dann sagt er, was gerade viele Kunden in Restaurants, die als «Überzeugungstäter» ihre Beizen besuchen, wohl denken: «Jetzt zu Hause sitzen und Angst zu haben, wäre völlig verkehrt. Dann würde man diesem Gewerbe den Todesstoss geben.» Wenn sich die Leute zusammenreissen würden, dann könnten in den nächsten Monaten die Vorschriften weiter gelockert werden. Sein aktueller Wermutstropfen: «Schön wird es, wenn sie diese Plexiglasscheiben wieder entfernen können.» Aber man gewöhne sich letztlich auch an diese Auflage.

Aber auch wenn sich anfänglich nicht alle Hlenstein Gastro-Betriebe rechnen, so wolle sie keine der 17 Lokalitäten gleich wieder schliessen und den Kundenstrom erst einmal beobachten, sagt Nicole Holenstein. Mit einer Ausnahme bieten alle 17 Lokale ihr übliches Angebot: Das Old Gregory Pub in der Langstrasse wurde ins angrenzende Cabaret erweitert, um Platz zu gewinnen. Allerdings sind die beliebten Karaoke-Abende dort auch auf Eis gelegt.

Die Schutzkonzepte seien in jeder Lokalität anders. Mit der Bar- und Clubkommission habe sie aber eine gute Anlaufstelle bei Fragen zur Umsetzung. «Sie setzen sich auch sehr ein, unter anderem für die Mietzinsreduktionen in der Stadt.» Nicole Holenstein hofft nun auf einen einträglichen Sommer, das sei essenziell für die Restaurants, insbesondere jene am Zürichsee, das Seerestaurant Keywest in Oberrieden und das Du Lac in Wädenswil, hätten dann grossen Zulauf. «So tragen sich die Lokalitäten je nach Saison gegenseitig.» Alles in allem bleibt sie zuversichtlich, dass keinen Mitarbeitern gekündigt werden muss. Aktuell seien alle in Kurzarbeit. «Wir werden es schon schaffen. Der Start am 11. Mai war ja gar nicht schlecht. Und laufend können die Betriebe hochgefahren werden.»

Gute Belegung dank Plexiglasscheiben

Insgesamt beurteilt auch Franz Ferlin, Geschäftsführer des Casa Ferlin an der Stampfenbachstrasse, die Wiedereröffnung trotz der rigorosen Auflagen als «sehr positiv». Er habe «nicht grade Luftsprünge» gemacht, jedoch konnte sich die Gastrobranche im Lockdown schon Gedanken machen über ein gangbares Schutzkonzept – in Anlehnung an andere Branchen, die bereits wieder den Betrieb aufgenommen hätten. «Die Angestellten freuten sich, wieder die Arbeit aufzunehmen. Sie mochten nicht mehr zu Hause sitzen.» Zwei Drittel der Belegschaft könne er wieder einsetzen, sie wechseln sich ab. Zwei Mitarbeitende gehörten zur Risikogruppe, diese bleiben zu Hause.

Gleich am ersten Tag konnte die Casa Ferlin 70 Essen verkaufen. «Ein guter Schnitt für den Start. Normalerweise haben wir um 110 Essen pro Tag.» Auch ein Take-Away-Angebot sei mit der Wiederöffnung lanciert worden. Ob sich das Angebot etablieren werde, lässt er aber noch offen. Erst müsse sich eine Nachfrage etablieren.

Dass seine Mitarbeiter Schutzmasken tragen, erlaubt ihnen, einen besseren Service zu bieten. «Der ist nur möglich, wenn man näher an die Gäste darf – sonst ist es kein richtiger Service», findet er. Das sei ein grosser Eingriff. Einer seiner maskierten Mitarbeiter ist ständig mit Abräumen beschäftigt, dazwischen desinfiziert er sich nicht nur die Hände, sondern auch die laminierten Menükarten, Salz- und Pfefferstreuer, stündlich werden auch die Türfallen desinfiziert. Die anderen würden das Essen nicht anrühren. Auch in der Küche tragen die Köche Schutzmasken. «Ansonsten mussten wir die hohen Hygienevorschriften nicht ändern. Sie desinfizieren immer wieder alle Geräte»

Die Gäste habe trotz neu Masken tragenden Personals und gläsernen Trennwänden zwischen den Tischen die Wiedereröffnung positiv aufgenommen. «Ohne die Wände wären nur 24 Personen erlaubt, und so lässt unser Konzept nun 35 zu», sagt Ferlin. Die Gäste dürfen nun dank den Trennwänden teilweise Rücken an Rücken zueinander sitzen, ohne Zwei-Meter-Abstand.

Auch wenn vier Personen die Tische belegen dürften, spürt die Casa Ferlin vor allem Besuch von Einzelgästen und solchen zu zweit. «Grössere Tische werden kaum besetzt.» Franz Ferlin glaubt, dass viele Kunden noch aus Unsicherheit oder Angst zu Hause bleiben. Was er nebst dem Wegbrechen der Touristen auch spürt: Die älteren Gäste blieben aus. «Viele unserer Stammgäste sind älter. Am ersten Tag kam kein einziger. Aber das ist verständlich» Doch für jene, die kommen, scheinen die Schutzmassnahmen keine grossen Abstriche fürs Erlebnis oder die Atmosphäre zu bedeuten.

Zwischenwände auch im Freien geplant

«Viele Restaurants haben reduzierten Betrieb, andere machen erst ab Mitte Mai wieder auf», sagt Andreas Dörig, Mitarbeiter im Hotel und Steak House Old Town im Niederdorf. Er glaubt nicht, dass das regnerische Wetter der Hauptgrund fürs Ausbleiben der Kundschaft ist. «Die Leute haben wohl noch etwas Angst.» Immerhin sei in den Folgetagen nach der Wiedereröffnung sukzessive etwas mehr gelaufen als am Vortag. Aber wegen der kühlen, regnerischen Witterung blieb die erste Woche noch unter den Erwartungen. Das Restaurant im Niederdorf darf trotz der Abstandsregeln rund 40 Personen im Innern fassen, aber «solange der Flugverkehr lahm liegt, läuft nicht viel». Der Tourismus mache 60 bis 70 Prozent des Umsatzes aus. Sobald es warm werde, wird die Beiz zwischen den Tischen im Freien Plexiglaswände aufstellen.

Diese sind derzeit beliebte Mangelware. Denn für Betriebe mit engen Platzverhältnissen ist es nicht ganz einfach, insbesondere die Distanzregeln einzuhalten. Laut Gastro Zürich gelangt man derzeit schweizweit nur schwer an neue Plexiglasscheiben zur Abtrennung von Kassen oder Essbereichen. Allein 300 solcher Trennwände hat beispielsweise die Handwerksabteilung der Bindella-Gruppe, zu der das «Santa Lucia» gehört, für alle Betriebe hergestellt, wie die «Schaffhauser Nachrichten» berichteten.

«Der Überlebenskampf beginnt erst»

Für Urs Pfäffli, Präsident von Gastro Zürich City und Geschäftsführer des Restaurant Au Gratin und der News Bar am Hauptbahnhof, ist das Tal für Gastronomen noch nicht durchschritten. «Ich denke, der Überlebenskampf beginnt für viele erst. Bis anhin wussten wir, was uns die Schliessung kostet, welche Rechnungen wir nicht bezahlt haben und wie hoch die Ausfälle waren.» Nun müsse man die Einsätze des Personals, Miet- und Stromkosten sowie die Ausgaben für Produkte ohne Erfahrungsschatz kalkulieren.

In seinem Restaurant am Bahnhofplatz lief die Wiedereröffnung mau an. «Wenn es so weitergehen würde, wie es angelaufen ist, würde ich wieder schliessen müssen.» Gerade 11 Mittagessen konnte er am 11. Mai verkaufen, während es normalerweise 130 sind. In der ganzen Stadt seien die Restaurants ziemlich leer gewesen in den ersten Tagen nach dem Lockdown. «Aber wir leben hier besonders von den Geschäftsleuten, die sich bei uns treffen.» Viele Mitarbeiter städtischer Dienstleistungsbetriebe seien immer noch im Home Office. Und er kenne viele Firmen, die für ihre Mitarbeiter Take Away bestellten. Jedoch sei rund um den Bahnhof das Angebot an Take Aways bereits genug gross, er sieht davon ab, auf diesen Trend aufzuspringen. Bei kleinen Quartierbeizen mache das vielleicht Sinn, wo der Patron in der Küche ohne grosses Risiko und hohen Personalkosten «etwas ausprobieren» könne. Andere seien wohl besser beraten, in Kurzarbeit zu gehen. Wenn es nicht wirklich einem Bedürfnis entspreche, sei in der Stadt viel Marketingaufwand damit verbunden, um Take Away zu etablieren.

Obwohl das Schutzkonzept von Gastrosuisse sieben Seiten umfasst, erachtet es Pfäffli als umsetzbar. Die Polizeistunde, welche dem mit fortschreitendem Alkoholkonsum zunehmend unberechenbaren Verhalten der Gäste geschuldet ist, kann er nachvollziehen. Auch die freiwillige Hinterlegung der Adresse durch die Gäste erachtet er als sinnvoll. Insbesondere wenn der Gast reserviere und wisse, mit wem er kommt, sei diese nicht zwingend. Er sieht nicht die reduzierte Mobilität der Gäste, die Abstands- und Hygienevorschriften als grosses Hindernis für die Gastronomen.

Dennoch ist seine erste Bilanz nach der Betriebsaufnahme eher negativ. «Für städtische Gastrobetriebe rentiert es sicher nicht. Im Unterschied zu Lokalen auf dem Land – wo oft die Wirte auch selber Hausbesitzer sind – haben wir viel höhere Mietzinsen.» Doch eine Prognose sei schwierig: Viel Einfluss habe der Bundesrat mit seinem Stay-at-Home-Motto, das beispielsweise auch die VBZ übernommen haben. Dieses nähre auch die Angst, Gaststätten zu besuchen. Geräumige Restaurants wie das Au Gratin, die auch fürs Ambiente besucht würden, schafften es dank grösseren Abständen, die Erwartungen auch ohne Trennwände zu erfüllen – während er andere Gastrobetriebe kennt, die nur vier Zweiertische belegen dürften. Und so hofft Pfäffli und mit ihm viele andere Gastronomen in der Stadt Zürich auf die baldige Trendwende.

Das anfänglich kühl-nasse Wetter sei eigentlich gar nicht ungelegen gekommen, meint abschliessend Nicole Holenstein. So habe man sich an die Abläufe unter all den Auflagen gewöhnen können. Kurzum: Die Bar- und Gastroszene in der Stadt Zürich ist insgesamt positiv gestimmt, dass die Angst auch bei Zweiflern verschwinden und der Lust auf auswärts Essen weichen wird.